„Schüler brauchen Wohlfühlfaktoren“

Veröffentlicht am 04.05.2010 in Bildung

Vier Expertinnen diskutierten über Leistungsdruck an Schulen

Eggenfelden. Es geht die Medien rauf und runter. Schüler in Deutschland sind immer größerem Druck ausgesetzt und reagieren extrem. Komasaufen, Magersucht, Burnout-Syndrom gelten aus Folgen. Der SPD-Ortsverband wollte ein Zeichen setzen und lud gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft für Bildung Niederbayern (AfB) zu einem Expertenpodium im Gasthaus Bayerische Lust ein. Dem Ruf waren nur 30 Zuhörer gefolgt.

Vier Referentinnen waren gekommen, die sich allesamt um die Menschen kümmern, die durch das Raster der Gesellschaft gefallen sind. Dazu gehören immer mehr Kinder. SPD-Vorsitzender Lars Knebler brachte es auf den Punkt: „Der Leistungsdruck ist schon in der Grundschule enorm und nicht alle sind dem gewachsen.“ In seinem Impulsreferat stellte sein Stellvertreter Benjamin Lettl die Schule als den Hauptstressort für Schüler dar. „Sie leiden unter dem Konkurrenzdruck und den hohen Erwartungen.“

„Nicht die Schule an sich macht krank“

Marion C. Winter leitete die Expertenrunde. Als Vorsitzende der AfB malte sie ein düsteres Bild von der Jugend im Freistaat. „Viele lernen nur noch und haben keine Freizeit mehr. Bayern will seinen Ruf bewahren, das schwerste Abitur zu haben.“ Kopfschmerzen, Bauchkrämpfe und die Symptome eines Burnout-Syndroms sind ihrer Meinung nach keine Seltenheit mehr. Marion C. Winter stellte die Frage in den Raum: „Gibt es Probleme an Bayerns Schulen oder ist es nur ein Problem einiger weniger?“

Hier kam die erste Expertin der Runde, Dr. Helga Schulte, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, zu Wort. „Nicht die Schule an sich macht krank. Es kommen viele Faktoren zusammen, die krank machen können. Eltern, Lehrer und Kinder sind alle Menschen, es kommt darauf an, wie sie miteinander umgehen.“ Erzieherisch seinen die Eltern von frühster Kindheit an gefragt. Außerdem sollten die Lehrer Wohlfühlfaktoren schaffen, um den Mädchen und Buben das Lernen zu erleichtern. „Ich würde mir wünschen, dass die Möglichkeiten zur Drogenprävention an den Schulen besser genutzt werden würden. Hier könnte man durch Zusammenarbeit mit Eltern und Lehrern vieles aufdecken.“

Auf das Klima in der Schule ging auch AnnaLee Scholz ein. Die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin beschäftigt sich mit Ess-Störungen bei Jugendlichen. „Dafür gibt es viele Ursachen“, stellte sie fest. Nicht die Schule allein könne hier der Auslöser sein, sondern der Stress an der Schule. So werden mollige Kinder oft gehänselt, was in eine Magersucht, Ess-Brechsucht oder Esssucht führen kann. Magersucht nimmt laut AnnaLee Scholz unter Jugendlichen zu. Und zehn Prozent der Betroffenen würden sogar daran sterben. Sie appellierte an Lehrer und Eltern, ein Netz zur Prävention zu schaffen.



30.04.2010 | Podiumsdiskussion: "Macht Schule krank?"

Diskutierten über die gesundheitlichen Probleme der Schüler: (von links) Dr. med. Helga Schulte, AnnaLee Scholz, Dr. Anneli Patzak-Nenninger und Dr. med. Cerstin Schirrmacher.



   
Kinder werden mit Pillen ruhig gestellt

Als engagierte Mutter und kritische Gegnerin des G8 saß Dr. Anneli Patzak-Nenninger am Podium. Die approbierte Pharmazeutin und selbstständige Apothekerin stellte fest, dass immer mehr Kinder mit Tabletten und Tropfen ruhig gestellt werden, um in der Schule zu funktionieren. Die Pharmaindustrie gehe auf den Trend ein und die Eltern wollen sich in der Apotheke beraten lassen. „Mein Ziel ist eine Gesundheitsstudie zum Schulsystem“, erklärte die zweifache Mutter.

Dr. med. Cerstin Schirrmacher ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und arbeitete einige Jahre an der Klinik in Landshut, bis sie in Postmünster eine Kinder- und Jugendpsychiatrische Praxis eröffnete. Sie kritisierte das Schulkonzept in Bayern und erklärte, man könne das alles besser gestalten. So ist ihrer Meinung nach die Entscheidung zum Übertritt nach der vierten Klasse noch viel zu früh, da sich die Kinder in der Zeit noch so verschieden entwickeln könnten. Als Psychologin erlebe sie es hautnah, dass Kinder unter dem G8 leiden. Den betroffenen Eltern gab sie den Tipp, den Nachwuchs nicht noch zusätzlich mit Terminen zu belasten. „Sie sollten die freie Zeit nicht mit Klavier und Leistungssport vollstopfen, sondern die Kinder einfach mal ihre Seele baumeln lassen.“

Die Schule sei aber auf keinen Fall nur negativ, stellte die Expertin fest. „Sie kann auch sehr bereichernd sein und es gibt viele Kinder, die Probleme im Elternhaus haben und sich nur in ihrer Klasse richtig wohl fühlen.“ Die Ganztagsschule berge laut Cerstin Schirrmacher viele Vorteile, denn es gäbe viel zu viele Eltern, die ihren Nachwuchs nachmittags vor dem Fernseher oder Computer parken. „Was das für Auswirkungen auf das junge Gehirn hat, wissen wir noch gar nicht.“ Entspannung und Erholung wäre für die Kinder viel wichtiger. Dazu komme noch die richtige Wahl der Schule für das Kind. Viele Buben und Mädchen seien an der falschen Einrichtung und könnten so ihre Fähigkeiten gar nicht optimal einsetzen.

In der anschließenden Diskussion konnten die etwa 30 Gäste ihre Fragen an die Expertinnen richten. Eine Ergotherapeutin wies darauf hin, dass zu wenig Sport getrieben werde. Auch sie plädierte für die Ganztagsschule, weil viel zu viele Kinder daheim vor den Computer „geklatscht“ werden. Über die fehlende Kampfbereitschaft der Schüler klagte ein weiterer Gast: „Sie üben ihre Rechte nicht mehr aus, es gibt viel zu wenig Proteste und keine kritischen Schülerzeitungen.“

Eine Gymnasiastin aus Eggenfelden meldete sich zu Wort und berichtete von einem Kommentar ihrer Lehrerin. „Sie hat uns gesagt, dass wir uns daran gewöhnen sollten, bis nachts um drei an den Hausaufgaben zu arbeiten und dann müde in die Schule zu gehen.“

Dazu bemerkte Marion C. Winter polemisch: „Viele wollen die Kinder mit ständigem Druck auf den Druck in der Gesellschaft vorbereiten. Aber ich beschimpfe mein Kind doch auch nicht den ganzen Tag, weil es im Berufsleben einmal beschimpft werden könnte.“




   
(Quelle: Rottaler Anzeiger, 04.05.2010)

 
 

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